Ende einer Reise durch die vermutlich lebenswerteste Region der Welt . . .
Nach einer stürmischen Überfahrt von Dünkirchen nach Dover, treffen wir am Abend in Shoreham by Sea ein. Die Gastfreundschaft der Casa Lambo – Ann hat sizilianisches Format – es ist ein offenes Haus, in dem Menschen ein und aus gehen, durch das Erkerfenster des ebenerdigen Wohnzimmers kann man auf die vielbefahrene See des Kanals sehen, der das Vereinte Königreich vom Rest Europas physisch trennt. Im Innern des Hauses wird viel gelacht, diskutiert, gegessen, getrunken, gelebt. Die Offenheit und gute Laune von Dave (Lambo) und Anne ist ansteckend, das Miteinander ehrlich und unkompliziert. Die Tage dort verfliegen rasant. Danke Anne, danke Lambo!!!
In den Strässchen auf der Insel Shoreham kennt man sich, grüßt und lacht und natürlich kennt man sich in den Pubs, dem Kernstück des sozialen Zusammenlebens. Da ist Graham der pensionierte Pilot, der schon einige Stunden in der kleinen Ciderbar die Anwesenden mit seinen Anekdoten aus aller Welt unterhält. Als wir eintreffen, werden Stühle gerückt, weitere Getränke bestellt. In dem wohnzimmerartigen Schankraum sind aus Platzmangel, Bierfässer an den Seiten gestapelt, es riecht nach Schweiß und Alkohol, was für die Sinne in Anbetracht der lebendigen Stimmung und der ersten Pinte schnell vergessen ist. Wir, die Deutschen, werden freundlich und mit Interesse aufgenommen. Untereinander schmeißen sich die Gäste derbe Sprüche an den Kopf, die nicht selten direkt auf die Fehler des Angesprochenen abziehlen – alle biegen sich lauthals vor Lachen und der Betroffene lacht ausgelassen mit.
Dieses sympathische Phänomen (das von großer Selbstironie und Herzenswärme getragen ist) treffen wir auch in anderen Pups an, insbesondere im Harbour Club, der, schlicht in seiner Erscheinung, das pulsierende Zentrum der Kiezfamilie darstellt. Hier turnen Kinder herum und die alten weißen Männer sitzen täglich an der Bar, die irgendwann wie Graham jetzt, nicht mehr ganz trittsicher aus dem Pup schleichen oder sich lauthals verabschieden bevor sie sich schwankend auf den Heimweg machen, den sie im Autopilotmodus meist mühelos erreichen.
Der Brexit ist Dauerthema. Bei den Europabefürworter hat sich eine tiefe, spürbare Resignation breit gemacht, und verständlicherweise tröstet es sie nicht, dass der bevorstehende Austritt wie von ihnen vorhergesagt, schon jetzt seine Schatten zeigt.
Diejenigen, die für „Out“ votiert haben, werden stiller, weil auch sie spüren, das ihr Votum kaum dazu führen wird, das die UK sich, isoliert von Europa, in das von UKIP versprochene Inselparadies verwandeln wird. In Canterbury bitten wir einen sympathischen vollschlanken Herrn um seine Einsschätzung, ob der von uns belegte Parkplatz entsprechend unserer Interpretation gebührenfrei und legal ist, was er bestätigt. Wir kommen ins Gespräch – ein Mazedonier hat gerade die Türen seiner Wohnung eingeladen, um sie für ihn innerhalb einer Woche zu lackieren. Für diesen Mazedonier hat England keine Zukunft mehr, was unser Parkplatzberater ganz offensichtlich bedauert. Gleichzeitig erklärt er uns: die Stimmen für „Out“ richten sich nicht gegen Europa, nicht gegen Deutschland, sie kamen zustande, um einer arroganten Polit – und Wirtschaftselite einen Denkzettel zu verpassen. Ob er für Out gestimmt hat, bleibt unklar und doch deutet einiges darauf hin, das er zu jenem Wählerkreis gehört, der mit seinem Outvotum im Grunde die Kluft zwischen Arm und Reich beklagte. Das es mutmaßlich die Reichen sein werden, und nicht die Menschen am unteren Rand der Gesellschaft, die den Brexit relativ schadlos überstehehen werden, kommt in seinen Überlegungen nicht vor.
In dem Ostküstenstädtchen Aldeburgh, sitzen wir auf der Bank vor der dem Dorfpub um uns eine Pinte Leffe zu Gemüte zu führen. Es ist eine lange Bank, auf der auch ein sehr alter Herr Platz nimmt, zunächst in gebührlichem Abstand.
Bald ist Caty mit ihm im Gespräch – er ist das letzte Kind von insgesamt siebzehn Kinder (von denen vier ihre Kindheit nicht überlebt haben).
Er sitzt da, etwas eingesunken, seine weißen feingliedriegen Hände schauen aus der hellen Stoffjacke – als er von seiner Zeit als Lokführer berichtet, schimmert in seinen Augen der Glanz echten Eiserbahnenstolzes. Irgendwann zieht er ein kleines, abgegriffenes Bild aus der Innentasche seiner Jacke, schaut es an und reicht es uns nachdenklich weiter – „meine Frau“. Er vermisse sie täglich. Er sei zwar versorgt, täglich käme das Essen auf Rädern und eine herzensgute Polin würde einmal am Tag bei ihm vorbeischauen, aber ohne seine Frau… er bricht ab. Als Caty ihm bestätigt, wie schön sie auf dem Bild sei, schaut er erneut auf das Bild in seiner zittrigen Hand, lächelt, seine Augen sind feucht.
Auch er hat für Out gewählt: „In den Schulen, in den Krankenhäusern, überall nur noch Ausländer, es gibt keinen Platz mehr für uns… . Er sagt es nicht abschätzig, nicht mit der Ängstlichkeit eines alten Menschen, vielmehr so, als habe er dabei die vielen Berichte seiner „Sun“ im Blick und berichte nur.
Ich denke an die Kinder von Mark, mit ihm und seiner Familie sitzen wir bei einem mit Nelken gespickten Braten am abendlichen Essenstisch, sind seine herzlich aufgenommenen Gäste für diesen Abend. Die aufgeweckten Jungs erzählen von der Wahl der Schüler an der dortigen Schule: 98% haben dafür gestimmt, in der EU zu bleiben, aber diese Stimmen zählen nicht, die des alten, einsamen Herrn hingegen schon!
Marcs Frau berichtet über den Außenminister Johnson, der öffentlich gesagt habe: Man müsse in Syrien nur die Leichen vom Strand wegräumen, um daraus ein herrliches Urlaubsparadies zu machen. Über die kurze Sprachlosigkeit hinweg bemerkt sie: unsere Regierung ist dabei, Trump den Platz 1 dummer Regierender streitig zu machen.
In Blewbury, wo wir George besuchen, gewinnt Caty eine neue Freundin. Sie ist groß, sehr groß, hat einen edel schimmernden grauen glatten Pelz. Sie heißt Rosie, ist eine deutsche Doge und sucht regelmäßig die Nähe zu Caty, in dem sie ihren großen Schädel, mit den sabbernden Lefzen direkt neben ihren Teller ablegt und Caty unwiderstehlich ansieht. Catys verständlicherweise eher ablehnende Haltung, interpretiert der stolze Hundebesitzer als Ängstlichkeit – „warte einfach ab“, sagt er zu mir, „das gibt sich, wenn sie sieht, das Rosie ihr nicht’s tut“. Rosies Spuckefaden auf dem Tisch, scheint in seiner Wahrnehmung gar nicht vorzukommen.
Rosies Liebe schmälert das Erlebnis dreier unbeschwerter, herzlicher Tage kaum. Wir erkunden das nahegelege Oxford, die alten Kultstätten Avebury Circle, das Schloss Blenheim Palace, Churchills Geburtsort.
In den Nächten führen wir lange Gespräche eingenebelt vom Rauch der Zigaretten, bei Whiskey, Wein und Bier – es geht um Minderheiten, Redefreiheit und den Brexit, auch hier…
Danke George für eine wunderbare Zeit…
Schließlich machen wir uns auf zu unserem letzten Ziel der Reise, Brüssel.
Dort treffen wir auf Gesichter und Sprachen aus aller Welt. Das Herzstück der EU präsentiert sich als gläserner Koloss – und dennoch spürt man, dass man hier als Gast willkommen ist, das dieses Bürokratiemonster für Besucher offen ist.
Vor dem Parlament ist eine Fotoausstellung, die Bilder der gesamten EU Außengrenze zeigt – es sind Bilder von Klebstoff schnüffelnden Jungs in Rumänien, finnischen Brüdern, die um der (gefühlten) Freiheit willen die Stadt verlassen haben und es mit dem rauhen nordische Leben aufnehmen. Bilder von Männern, die in Anbetracht der Korruption in ihrer Heimat Bulgarien keine Arbeit finden und fischen gehen, damit überhaupt etwas auf den Teller kommt. Es sind Bilder, die ihre Finger in die wunden Stellen dieses vielschichtigen Lebensraumes Europa legen und den Betrachter vor Augen führen, das noch viel getan werden muss, in diesem Europa. Das diese Bilder hier gezeigt werden, im Zentrum der EU – Macht, schenkt mir Vertrauen. Die Machtzentrale des größten Wirtschaftsraumes der Welt lässt zu, dass Millionen EU Bürger und Besucher jährlich, diese Bilder sehen . . .
Im Innern eines der Glaskollosse das Parlament: auf dem Weg dorthin die Toilette: hier wird mit Piktogramen und in mehreren Sprachen erklärt, wie man sich am besten die Hände zu waschen hat – Desinfektionsmittel ist Standart – für das Händewaschen gibt es ausgeklügelte Regeln, daneben wirken die Auflagen für Hedgefonds geradezu durchlässig 😉
Der Parlamentssaal ist still an diesem Vormittag, nur eine Handvoll Touristen mit ihren audiovisuellen Begleitern sitzen in den letzten Reihen. Gegenüber der Besucherreihe, hinter der Sitzreihe des parlamentarischen Präsidiums, befinden sich 24 Dolmetscherkabinen. Die 28 EU Staaten sprechen hier in 24 Sprachen miteinander. Jeder hat das Recht, sich in seiner Sprache auszudrücken – was für ein Unternehmen! Ich schaue auf die leeren Sitzreihen vor mir und bin beeindruckt. Ich stelle mir die Auseinandersetzungen vor, lasse die Reise Revue passieren, all diese Orte, diese verschiedenen Welten mit ihren völlig unterschiedlichen Anforderungen und bin glücklich, dass hier diskutiert wird.
Nicht ein Land ist hier vertreten, das nicht mit anderen der hier vertretenen Länder schon bittere Kriege geführt hat, viele Kriege, über viele Jahrhunderte hinweg. Jetzt wird hier diskutiert, gefeilscht, Abmachungen in Hinterzimmern getroffen, aber ebenso darum gerungen, zu gemeinsamen Ergebnissen zu kommen.
Selbst wenn hier der Krümmungsgrad der Banane diskutiert wird, entscheident ist, dass die Vertreter dieser Länder weiterhin diskutieren. Es mag langsam gehen, es mag Korruption geben, es mag den Unwillen geben, beispielsweise fuktionierende Steuergesetze für die gesamte EU zu beschließen (entwickelt sind sie längst), aber sie sitzen hier zusammen, was, und das haben wir überall gespürt, langsam den Identifikationshorizont manifestiert hat:
Wir sind Europäer (wobei mir klar ist, dass Europa hier die EU meint, was leider nicht dasselbe ist)
Ich würde mir das für die gesamte Welt wünschen- aber immerhin wird hier in dem real existierendem Irrsinn der Versuch unternommen, all die Interessen von 28 Staaten zu formulieren und in reale Politik, in Gesetzgebungen einfließen zu lassen, anstatt Panzer in Stellung zu bringen.
Lobbyisten gehen hier ein und aus, mächtige Egoisten sitzen hier, blockieren Möglichkeiten. Sie sitzen neben Idealisten, die beispielweise für saubere Luft kämpfen und sehr weit gefasste Gesetze für den CO2 Handel bekommen – aber sie sitzen zusammen, bis heut, in dem babylonischen Sprachgewirr von 24 Sprachen!
Ich schaue auf die 24 Übersetzterkabinen und denke: die EU ist zurecht Friedensnobelpreisträgerin.
Ich denke das auch vor dem Hintergrund einer Reise durch 17 europäische Länder. Würde man direkt von unserem südlichsten bis zum nördlichsten Punkt unserer Reise fahren, müsste man 4982km zurücklegen. Wir waren rund 24.000km in Ländern unterwegs, die verschiedener kaum sein könnten und die dennoch verbunden sind, durch eine verwirrende Geschichte, durch vielfältige jahrhunderte alte Durchmischungen, durch grausame (sinnlose) Kriege, wechselnde Bündnisse und die es am Ende geschafft haben, sich zu einem gemeinsamen Lebensraum zu bekennen, zu der Idee Europa. Sieht man von sehr wenigen unfreundlichen Menschen ab, so sind wir durchgängig auf offene, wunderbare Menschen gestoßen, haben einen Lebensraum ungeheurer Vielfalt und kulturellen Reichtums erlebt und kehren zurück in dem Bewußtsein, zutiefst dankbar dafür zu sein, in einer der besten real existierenden Regionen der Welt leben zu dürfen!
Wie erwähnt, würde ich mir das auch für die ganze Welt wünschen, dass wir irgendwann von der Welt sagen können, das wir uns als Weltbürger fühlen
(was wir ja faktisch sind). Vielleicht ist die heutige EU dereinst das gelebte Vorbild für den langwirigen Prozess einer gemeinsamen Identifikation mit dem Weltbürgertum!!!
Ich bin mir meines Pathos in diesem vorerst letzten Reisebericht voll auf bewußt.
Und ich bekenne mich an dieser Stelle uneingeschränkt dazu. Bei allen real existierenden Problemen dieser Gemeinschaft scheint die großartige Leistung unzähliger Menschen in Vergessenheit geraten zu sein, die dieses Europa soweit befördert haben, wie es heute ist!
Die Erbfeinde Frankreich und Deutschland gelten heute als Herzstück eines gemeinsamen Europas. Auf dem Schulhof meiner Kindheit war der abfällige Begriff Spagetthiefresser für die Italiener noch selbstverständlicher Sprachgebrauch. Heute sind es u.A. die Muslime, Türken, Afrikaner die mit ähnlich abfälligen Begriffen belegt werden. Wenn es 28 ehemals kriegführenden Nationen gelungen ist, ihren nationalen Horizont zu erweitern, könnte es auch für die Welt gelingen, bei aller Unterschiedlichkeit.
Wer hier eine Liebeserklärung an Europa heraushört, den kann ich in seiner Wahrnehmung bestätigen!
Und es gibt eine weitere Liebeserklärung, die hier nicht fehlen soll: an eine wunderbare, lebensfreudige, offene Frau, die sich auf diese Reise vollumfänglich eingelassen hat, auf einsame Nächte in nordischen Wäldern, Kiesgruben im Mafialand Sizilien, Parkplätzen bei sengender Hitze in Bulgarien . . .
Ich danke Dir Caty für diese Zeit, In Liebe!!!
Ich sitze am Schreibtisch meiner Berliner Wohnung, knapp 700km entfernt sitzt Caty nach getaner Arbeit in ihrer Tübinger Wohnung.
Eule steht in der Ella Kay Strasse unter einer blätterlosen Linde.
Es fühlt sich noch immer fremd an, nach den sechs Monaten, in denen wir 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche unser Leben geteilt haben.
Wir sind weiter zusammengewachsen und was neben den vielen bunten gemeinsamen Erlebnisen bleibt, ist tiefe Dankbarkeit! Dieses Gefühl der Dankbarkeit ist auch erheblich davon genährt, dass es so viele Menschen und Stimmen gab, die uns bestärkt und begleitet haben. Wir danken euch!
Gehe jetzt eine Kleinigkeit Essen und auf ein Bier. Laufe die kopfsteingeplasterten Wege meines vertrauten Kiezes entlang, auf denen das nasse Herbstlaub liegt, und versuche mich wie all die Tage zuvor daran zu gewöhnen, das die Haustüre nicht mehr die schmale Eulentüre ist und dass das Wohnzimmer zwar sehr viel geräumiger ist, aber eben ohne Caty…
Mit lieben Grüßen Caty und Knut.
P.S.: Wie geht es weiter mit dem Blog?
Momentan versuche ich rauszufinden, ob für den Blog die Möglichkeit besteht eine Option einzurichetn, die es euch bei Interesse ermöglicht, benachrichtigt zu werden, wenn es etwas Neues zu lesen gibt.
Habe vor, ab und an zu berichten, aus der Welt des Tourleben, aus der Haupstadt oder anderen Dingen…
Wir werden sehen…
?Danke
Danke, für’s Miterlebendürfen!!! Papa